Der Provokateur. Historischer Roman.
Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1989.
Mit zeitgenössischen Zeichnungen von Honoré Daumier.
Auszug (S.210-213)
Beifall, Freudenschreie und Pfiffe ertönen, als im Saal vereinzelt Trinksprüche ausgebracht werden,
die nicht mit dem Zentralbüro der Gesellschaft der Freunde des Volkes abgestimmt worden sind.
"Auf die Revolution von achtzehnhunderteinunddreißig!", "Auf die Sonne von achtzehnhunderteinunddreißig!",
"Auf Marat!" ...
Evariste hat nur wenige Gläser Wein getrunken. Aber die Stimmung im Saal und die Erinnerungen an die
Prozeßtage haben ihn stark erregt. Er legt sein Dolchmesser auf den Tisch. Angestrengt schaut er in
die Runde. Plötzlich sieht er auf, faßt nach seinem Weinglas und hebt es in die Höhe.
Keiner beachtet ihn. Es ist ziemlich laut im Saal, man unterhält sich über den Tisch hinweg, Lieder
werden gesungen. Der Präsident bespricht sich mit Raspail bereits wegen des Schlußwortes.
Evariste hält sein Glas noch immer hoch. Allmählich wird man auf ihn aufmerksam. Eine Klinge blitzt auf.
Evariste richtet sein Messer auf das Weinglas. "Auf Ludwig Philipp!" ruft er mit fester Stimme.
Junge Männer in seiner Nähe klatschen. Sein Nachbar, Gustave Drouineau, wendet sich mißbilligend ab.
Von der anderen Tafelseite ertönen Pfuirufe. Die Männer dort haben die Handbewegung nicht gesehen
und glauben, Evariste wolle auf das Wohl des Bürgerkönigs trinken. Murren, Pfiffe und Hohngelächter
sind ihre Antwort darauf.
Evariste erhebt sich erneut, schwenkt das Dolchmesser, damit alle es sehen können, und wiederholt
seinen Trinkspruch. Augenblicklich ist es sehr still im Saal.
Dann wird vereinzelt der Ruf "Auf Ludwig Philipp!" wiederholt. Einige Gäste, unter ihnen Alexandre
Dumas, flüchten durch die Fenster in den Garten. Die Organisatoren des Festes beratschlagen leise
miteinander. Mehrere junge Artilleristen sind auf ihre Stühle gestiegen. Sie halten in der einen
Hand ihr Weinglas und richten mit der anderen ihren Dolch oder ein Messer darauf.
Raspail empfiehlt dem Präsidenten des Banketts: "In einer Versammlung wie der unseren ist Ludwig
Philipp ein Name, mit dem wir uns nicht beschäftigen wollen, weder dafür noch dagegen."
Hubert nickt. "Wir erklären das Bankett für aufgelöst." Wenig später haben alle den Saal verlassen.
Nur die Kellner räumen Speisereste weg, entfernen beschmutzte Tischdecken und tragen leere Weinkannen
hinaus. Einer stellt zwei halbvolle Krüge auf das Fensterbrett, hinter einen Vorhang.
Auf der Straße wird Evariste von Artilleristen umarmt. Sie wiederholen seine Geste, nehmen ihn in ihre Mitte. Evariste möchte am liebsten weinen. Tief atmet er die warme Luft dieser Mainacht ein.
Es ist ein Zug von dreißig bis vierzig überwiegend jungen Republikanern, und Evariste geht in ihrer
Mitte. Auf ihrem Weg in die Innenstadt finden immer mehr Menschen zu ihnen. "Zum Vendömeplatz!" ruft
einer, und alle schreien: "Zum Vendömeplatz!"
Seit am 5. Mai, dem Sterbetag Napoleons, Hunderte Kränze aus Maiblumen, Immortellen und Rosen an der
Säule niedergelegt worden sind, auf der seit Jahren schon die Statue Napoleons fehlt, ist der
Vendömeplatz zu einem beliebten Anlaufpunkt für Bonapartisten, Republikaner und Anhänger Karls X.
geworden. Die zahlreichen Anhänger des Kaisers behängen jeden Tag die Adler am Fuß der Säule mit
Blumenkränzen, haben eine Büste Napoleons und Lithographien mit seinem Bild aufgestellt und entzünden
am Abend vor der Säule Lämpchen. Karlisten und Republikaner versuchen die Menschenansammlung für ihre
Agitation zu nutzen.
"Zum Vendömeplatz!" Evariste fühlt sich aufgehoben in dem Zug, aber auch schon etwas ernüchtert.
Er sieht, daß Mädchen des Louvre - Prostituierte - im Zug mitziehen, daß sich ihnen Taschendiebe
angeschlossen haben.
Ein stolzes Bekenntnis für die Freiheit hat er geben wollen. Sein "Tod dem Tyrannen!" hat sich in
eine Orgie, in einen Karnevalsaufzug verwandelt. Evariste möchte am liebsten weglaufen. Hätte ihn
die Polizei verhaftet, vorhin, nach seinem Trinkspruch, stolz, mit erhobenem Kopf hätte er sich
festnehmen lassen.
Einige ziehen ihre Messer, grölen: "Auf Ludwig Philipp!" Evariste tastet nach dem seinen.
Es ist verschwunden.
Mehrere stimmen die Marseillaise an und übertönen damit die Schreier.
Es ist erst gegen 22 Uhr, und auf den Straßen von Paris sind noch viele Leute unterwegs.
Nationalgardisten und Gendarmen beobachten den Auflauf, noch unsicher, ob sie eingreifen sollen.
"Vive la république!" und "Vive le peuple souverain!" wird gerufen. Evariste stimmt kräftig ein. Er hat sein Unbehagen vergessen. Sie tanzen um die Säule, tanzen die Carmagnole, fassen die Mädchen fester. Ziehen weiter durch die Rue Saint Honoré und die Rue Royal zur Place de la Concorde. Erst dort lösen Gendarmerie und diensthabende Nationalgarde den Zug auf und verhaften mehrere Demonstranten.
Noch in dieser Nacht werden alle Blumengebinde und Immortellenkränze von der Vendömesäule
entfernt, Wachen aufgestellt und, als sie gegen das herandrängende Volk nicht ausreichen,
von mehreren Abteilungen Husaren, Dragonern und Nationalgarde unterstützt. General Lobau
läßt durch Einsatz der Feuerwehr mit Wasserspritzen den Platz räumen. "Die Sapeurs Pompiers
sind die Artillerie des Juste milieu", spotten die Leute.
An diesem Tag ist der Vendömeplatz leer, und die Händler halten auch in den angrenzenden
Straßen ihre Läden verschlossen. Der Tanz der Carmagnole hat Händler und Polizei aufgeschreckt.