URALT, UNHEIMLICH, WUNDERSAM.
Schutzumschlag: Isolde Roßner.
Illustrationen: Siegfried Otto-Hüttengrund

Sagen, Sitten und Bräuche
aus dem Umkreis von Hohenstein-Ernstthal
(Auszug)

SAGEN UND ALTE ÜBERLIEFERUNGEN - NEU ERZÄHLT

DAS EISGRAUE MÄNNLEIN VOM ALEXANDERSTOLLEN

Wer vom Bäckerloch aus den Weg zum Tschirp-Teich ein Stück bergab geht und dann in die erste Waldschneise links hinüber in Richtung Gasthof "Heiterer Blick" einbiegt, erkennt dort mit etwas gutem Willen noch das verfallene Mundloch des Alexanderstollens.
Zuletzt wurde hier in den Jahren 1859-1863 Eisenerz gefördert. Den Stollen aber hatten Bergleute einige hundert Jahre vorher schon einmal angelegt - wahrscheinlich bald nach der Gründung der Stadt Hohenstein - und das Erz in die kurz nach 1500 erbaute Hüttenmühle zur Verhüttung gebracht. Wie bei den anderen Zechen, so kam vermutlich auch hier der Abbau durch den Dreißigjährigen Krieg zum Erliegen.
Tief in den Serpentinitstein des Rüsdorfer Waldes hinein trieben im 16.Jahrhundert in harter und mühevoller Arbeit die Bergknappen den Stollen und fanden reichhaltige Gänge, also gutes Eisenerz, das sie über den Eisenbergweg hinüberfuhren in den Hüttengrund.
Einem jungen Bergmann aus Hohenstein soll an einem kalten Wintertag in diesem Stollen, dem "Alexanderstollen", recht Seltsames widerfahren sein:
Mit seinem Gezäh schlug er wieder einmal unermüdlich auf das derbe Gestein ein, und bemerkte dabei gar nicht, dass er sich nur noch allein in der Strecke befand. Seine Bergbrüder schleppten in Körben Erz und taubes Gestein nach draußen, wo sie es auf Karren verluden.
Es war recht duster um ihn her, denn sein einsames Geleucht verbreitete nur einen schwachen Lichtschein. So arbeitete er lange Zeit, bis er glaubte, nun müsse Mittag sein. Wie fast jeden Tag packte er seinen Kanten Brot und die Kanne Tee aus und setzte sich auf den Steinhaufen, den er aus der Wand geschlagen hatte. Er blies die Unschlittkerze aus, denn für seine Mahlzeit brauchte er kein Licht, und die Kerze sollte ja möglichst für die ganze Schicht ausreichen. Bedächtig kauend aß er sein Mittagbrot.
Als er so in der Dunkelheit saß, hörte er neben sich ein leises Scharren und Kratzen. Ein Steinbrocken löste sich vom Haufen, und er spürte jemandes Atem ganz in seiner Nähe. Er glaubte, seine Bergbrüder wollten ihn necken. Um nachzuschauen, zündete er die Kerze wieder an, da erblickte er neben sich ein Männlein, drei oder vier Spannen groß, das eher einem dürren Kiefernast als einem lebendigen Wesen glich, so mager und hungrig. Wams und Hose waren verschlissen und hingen ihm lose am Leibe. Sein eisgrauer Bart und der Haarschopf ähnelten Büscheln vertrockneten Waldgrases. Der Bergmann war erschrocken, aber er bemerkte doch den sehnsüchtigen Blick, den das seltsame Wesen auf seinen Brotranft heftete. Eigentlich hatte er selber noch Hunger, doch er brach ein Stück ab und reichte es dem Männlein, das gierig hineinbiss, dann aber innehielt und ein Restchen übrig ließ.
"Schmeckt es nicht?", fragte der Bergmann. "Ich will es meiner Frau mitnehmen", erwiderte das Männlein mit krächzender Stimme. Bittend schaute es den Bergmann an: "Ich bin der Geist dieses Berges, in dem du nach Erz suchst. Meine Frau und ich leiden große Not. Im letzten Herbst gab es nur wenig Beeren und Pilze, und durch den langen Winter ist nun unser geringer Vorrat aufgebraucht. Meine Frau ist schon lange krank. Ich fürchte, sie wird nicht mehr lange leben, denn sie muss verdursten und verhungern, und ich werde ihr bald folgen."
Mitleidsvoll reichte der Bergmann dem Männlein den Rest des Ranft, goss Tee in den Kannendeckel und bot dem Berggeist zu trinken an. "Es ist auch für deine Frau noch genug im Krug", sprach er freundlich.

Das Männlein verschwand, kehrte aber bald mit einem Krüglein zurück. Es war winzig, und doch fasste es zur Verwunderung des Bergmannes den reichlichen Rest Tee aus dem großen Krug.
"Nun ist dir selber nichts geblieben", sagte das Männlein. "Das macht nichts. Heute Abend zu Hause kann ich doch wieder essen und trinken. Komm nur morgen wieder an diese Stelle. Ich will dir ein Stück Brot mitbringen und auch eine Krankensuppe zur Stärkung für deine Frau."
Nach der Schicht sprach der Bergmann zu niemandem von seinen Kameraden über sein Erlebnis. Erst zu Hause erzählte er seiner Frau und seinen beiden Kindern von der Begegnung.
Als die Kinder hörten, dass der Berggeist in Lumpen gehen müsse, holten sie Stoffreste, mit denen sie oft spielten, und bettelten die Mutter, ihm daraus Hosen und Wams und seiner Frau ein Kleid zu nähen. Die Mutter war eine gutherzige Frau, nähte die Kleider, kochte Krankensuppe und buk sogar einen kleinen Kuchen.
Am anderen Morgen nahm der Bergmann diese Gaben, auch Brot, eine Kanne Tee und ein Fläschchen mit gutem altem Wein mit in den Alexanderstollen. Und wirklich, pünktlich um die Mittagsstunde fand sich das Männlein wieder ein. Freudig nahm es alles in Empfang, bedankte sich und verschwand bald wieder, wohl weil es von den anderen Bergleuten nicht entdeckt werden wollte.
Mehrere Wochen lang versorgte so der Bergmann jeden Tag das Männlein und dessen Frau mit Brot und Tee.
Der Berggeist erholte sich zusehends und die neue Hose und das Wams passten ihm von Tag zu Tag besser.
Eines Tages jedoch fand es sich nicht wie üblich ein. Als der Bergmann dann nach der Mahlzeit weiterarbeitete und mit seinem großen Meißel und dem schweren Fäustel auf die Wand einschlug, rutschte mit einem Male der Meißel tief in das Gestein und war plötzlich verschwunden, der Fels tat sich auf und der Bergmann befand sich in einer geräumigen Höhle.
Helle blendete ihn. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er, dass er sich in der Behausung des Berggeistes befinden musste. Katzengold und Silberadern schmückten die Wände, zierliche Möbel standen da. Und auf einer Bank saßen der Berggeist und sein noch winzigeres Weiblein. Die beiden erhoben sich, kamen auf ihn zu und lächelten ihn freundlich an. "Deine Arbeit hat dich heute zu uns geführt.", sagte die Frau des Berggeistes. "Bergmann, du hast uns gerettet. Dank deiner Hilfe sind wir beide wieder gesund geworden. Und weil du so gut warst und mit uns dein Brot geteilt hast, sollst du wohlverdienten Lohn erhalten."
Die Alte ging hinüber zu einer Truhe und kehrte bald mit einem ledernen Beutel zurück. Der war leer.
Der Bergmann aber wollte selbst den Beutel nicht zum Dank nehmen. Jedoch der Berggeist duldete keinen Widerspruch: "Dieser Beutel gehört dir. Höre, so leer, wie er aussieht, ist er nicht. Jedes Mal, wenn du hineingreifst, wirst du darin so viel Geld finden, wie du gerade benötigst. Und sorge dich nicht: sollten böse Menschen ihn dir stehlen wollen, so werden sie daran keine Freude haben."
Der Berggeist mit dem eisgrauen Bart drückte ihm den Beutel in die Hand und geleitete ihn aus seiner Höhle, führte ihn noch bis hinter einen Felsvorsprung und verschwand.
So sehr der Bergmann dann auch suchte, der Zugang zur Höhle blieb verborgen. Der lederne Beutel in seiner Hand überzeugte ihn, dass er nicht geträumt hatte.
Er hörte Stimmen. Seine Bergbrüder suchten bereits seit Stunden nach ihm. Doch als er ihnen das Erlebnis mit dem graubärtigen Männlein erzählte, lachten sie und glaubten ihm nicht, er aber sagte:" Ihr habt so lange nach mir gesucht. Darum lade ich euch auf einen Krug Bier ins Wirtshaus ein. Da können wir gleich die Kraft des Beutels erproben."
Der Bergmann glaubte an das Geschenk des eisgrauen Männleins, und er bestellte einen guten Braten und für jeden einen Maßkrug Bier.
Der Hüttenmühlenwirt jedoch war nicht bereit, eine solch hohe Zeche anzuschreiben:
"Nur wenn du im Voraus zahlst, stehen euch Küche und Keller offen." Und er nannte den Preis. Der Bergmann griff in den Beutel und zahlte zum großen Staunen des Wirtes und der Bergleute in guten Talern und Groschen.
Als er das getan hatte und den Beutel wieder einsteckte, war dieser leer, und die Bergleute machten sich einen fröhlichen Abend.
Und immer, wenn der Bergmann künftig etwas zu bezahlen hatte, fand er gerade genügend klingende Münze in dem Beutel.
Jeden Freitag aber lud er fortan seine Bergbrüder zum Essen und Trinken in das Wirtshaus neben der Schmelzhütte im Hüttengrund.
Ein Spitzbube, der beobachtet hatte, wie der Bergmann den Beutel in die Tasche seines Rockes steckte und diesen dann über die Stange hängte, wollte die Gelegenheit nutzen. Als die Bergleute fröhlich zechten, stahl er den Beutel.
Auch er bestellte beim Wirt Braten und Bier, und auch von ihm verlangte der erfahrene Wirt zuvor die Zahlung. Doch als er den Beutel öffnete, zischte ihm eine Kreuzotter entgegen und hätte ihn ums Haar gebissen, wenn er ihn nicht rasch von sich geworfen hätte.
Der Bergmann jedoch hob den Beutel auf und sagte zu dem Spitzbuben: " Bist ein armer Kerl. Bestell dir ein Essen. Ich bezahl's." Und er griff in den Beutel, und es war Geld drin.

Die Geschichte ist lange her. Der Bergmann und seine Familie sollen immer in bescheidenem Wohlstand gelebt haben. Ob er den wundertätigen Beutel seinen Kindern hinterließ, oder ob dieser mit dem Tode des Bergmannes seine Wunderkraft verlor, weiß niemand mehr zu sagen.
Manchmal aber, so behaupten alte Leute, sollen im Winter beim Alexanderstollen winzige Fußabdrücke im Schnee zu sehen sein. Vielleicht leben der Berggeist und seine Frau noch heute dort in ihrer geheimnisvollen Höhle.


DIE REITER OHNE KOPF

Viele Sagenmotive von "Umgehenden" wurzeln im Volksglauben, dass Selbstmörder, Meineidige, Wucherer, Geizige und Hartherzige nach ihrem Tode keine Ruhe finden, sondern nachts an den Stätten ihres Todes oder ihrer Schandtaten wandeln müssen. Jedoch auch die Seelen gewaltsam aus dem Leben Geschiedener treiben an den Unglücksorten ihr Wesen. Unbeerdigt gebliebene Soldaten oder fehde- und raublustige Ritter kommen nach Meinung der Volkspoesie an vielen Orten als Reiter ohne Kopf des Weges geritten:
Der Stollberger "Panzerreiter" wurde angeblich schon vor dem Dreißigjährigen Krieg auf seinem Rappen in der Nähe der Stadt gesehen: Ein langer schwarzer Mantel umflattert seinen Harnisch und eine grau und schwarz gefleckte Krähe fliegt ihm voraus.
Manchmal lässt sich dieser Unglücksvogel um die Mitternachtsstunde auf der großen Linde in der Oberstadt Reiter ohne Kopf - Zeichnung von S. Otto Hüttengrund nieder. Dann verkündet er mit seinem Krächzen jedem, der es hört, den Tod binnen dreier Tage.

Im Lichtensteiner "Reiterhölzel" soll ein kroatischer Söldner ohne Kopf noch immer sein Wesen treiben. Als im August 1632 eine Holksche Heeresabteilung der kaiserlichen Armee das Lichtensteiner Schloss niederbrannte und in der Stadt plünderte und brandschatzte, wollten in diesem Wäldchen zwei Söldner das gemeinsam erbeutete Gut und Geld teilen. Dabei kam es zum Streit, der mit dem Säbel entschieden wurde.
Niemand schaufelte dem Toten ein Grab. Er musste "umgehen".

Am Maltzteich an der von Kaufungen nach Oberfrohna führenden Maltzstraße verunglückte im Jahre 1623 Loth von Thumbshirn tödlich. Auch er soll noch immer als kopfloser Reiter Furchtsame erschrecken.


© Regina Röhner